1793 - Landespflegeheim Wittstock (Dossepark) - Rückblick von MR Dr. Christian Donalies

Wittstocker Landespflegeheim (Dossepark) eröffnet 1793 als Soldaten-Invalidenhaus - Männersiechenhaus, Männerlazarett, Frauensiechenhaus, Kranken- und Pflegeanstalt, Pflegezentrum, Sozialheim, Wohn- und Betreuungsstätte, Seniorenzentrum.

Einleitung aus der MAZ: "Das ehemalige Landespflegeheim hat eine mehr als 200 Jahre lange Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit dem Bau des Landarmen- und Invalidenhauses begonnen, verwendet wurden dazu Steine der historischen Stadtmauer von Wittstock, die zuvor überwiegend eine Höhe von bis zu zehn Metern erreicht hatte. Als das Heim 1793 eröffnete, wurden nicht nur Invaliden, sondern auch Obdachlose, Bettler und ältere Erwerbsunfähige aufgenommen. Gleichzeitig sollten Geisteskranke „aufbewahrt“ werden."

Rückblick auf die Entwicklung des Hauses - In memoriam MR Dr. med. Christian Donalies (1933 - 2020) 


Wenn man die Geschichte des Hauses überblickt, dann ist dies nicht die Geschichte einer Einrichtung, einer Institution oder gar eines Faches im Kleinen.

Als Überbleibsel aus der Gründungsperiode blieben nur Bauhülsen des Haupthau­ses, das mehrfach umgebaut wurde, und ein Teil der Mauer übrig sowie - stark verkleinert, da Ackerflächen, Park und Friedhof nicht übernommen wurden - das Gelände.
Das Haus änderte nicht nur mehrfach den Namen, sondern auch den Inhalt - von der Mischung ganz zu schweigen. Es war Obdachlosenasyl und Pflegeheim, Unterkunft für Wanderer und Straffällige, Haus für chronisch psychisch Kranke, Alte und Behin­derte, Auffangort für Abgebrannte, Ausgebombte und Umsiedler, vorübergehende Wohnung für Minderbemittelte und Ausgangspunkt für andere Einrichtungen. Es war Lazarett, Kaserne und in wenigen Fällen Stätte derjenigen, die ins normale Leben zurückfanden.

Es war Arbeitgeber und Wohnort für viele Wittstocker - teilweise in denselben Fa­milien und mehreren Generationen. Es war landwirtschaftliches Zentrum und Dienst­leistungsbetrieb in verschiedenen Bereichen mit Arbeitsmöglichkeiten sowohl für Menschen aus der Stadt als auch für viele Heimbewohner. Es war aber auch in der Kriegszeit v.a. 1939/40 letzter Aufenthaltsort, nicht nur für die, die hier eigentlich unbefristet untergebracht waren, sondern auch für Kranke und Behinderte, die aus anderen Einrichtungen kamen und von hier auf den Weg in die Vernichtungsstätten der Nazis gezwungen und Opfer schrecklichster Verbrechen wurden!

Die Gründung des Hauses fiel nicht zufällig in die Zeit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm ll. Der Heeresreformer von Boyen schrieb z.B.: "Jede Verfügung trug den unverkennbaren Stempel des Wohlwollens, war von dem Bestreben begleitet, einzelne Härten in dem Regierungssystem des Oheims auszugleichen." Der "Oheim" war sein Vorgänger, der kinderlose Friedrich der Große, aus dessen Kriegen noch invalide Soldaten lebten. Aber jede Neuerung wird schnell alt - wenn sie nicht überprüft und weiter verbessert wird! Der Fortschritt geht an solchen Häusern oft vorbei, um so mehr, wenn die Bewohner gar nicht oder nicht ausreichend dafür kämpfen können und die Mitarbeiter selbst nicht über die notwendige Durchset­zungskraft verfügen. Die Gefahr, daß die Schwächsten der Schwachen weiter ver­nachlässigt werden, noch mehr zusammenrücken müssen und beiseite gedrängt - ja sogar mißbraucht und als überflüssig angesehen werden - ist sehr groß. Diese Erfahrung machte durchaus nicht nur eine bestimmte Epoche. Aber lassen wir den Rückblick selbst sprechen
Über die direkten Anfänge divergieren die Angaben. Meist findet man das Jahr 1792 - auch bei dem Stadthistoriker W. Polthier in seiner "Geschichte der Stadt Wittstock" (1933). Dieser schreibt, daß das Haus "1790 - 92 vom Staat auf dem domänenfiskali­schen Gelände der Sandbreite" erbaut und auch 1792 eröffnet wurde. In einer hand­schriftlichen Meldung einer Inspektion - gez. Meihsner 1893 - wurde als Bauzeit 1787- 91 angegeben. Als Baumaterial wurden vorwiegend Steine der Stadtmauer Wittstock benutzt. Es ist da auch von einem Vertrag mit dem Mühlenbesitzer in Scharfenberg vom 04.10.1793 zur "Sicherstellung" des notwendigen Mehls für die "Landarmen- und lnvalidenanstalt" die Rede. Der Anstaltsgeistliche Tietke stellte am 14.08.1893 unter Berufung auf Kirchenbücher den Antrag, zum 100-jährigen Bestehen am 01.11.1893 einen Festgottesdienst abhalten zu dürfen. Dies wurde aber vorn amtierenden Landesdirektor unter Hinweis auf die unterbrochenen Traditionen (man verwies auf die Neugründung der "Anstalt" 1832) abgelehnt. Tietke meinte, die Gründung 1793 sei "ein Ereignis", daß wohl wert wäre, in irgendeiner Weise gefeiert zu werden. "Euer Exzellenz bitte ich darum untertänigst, mir gütigst Anweisung über die Art der etwaigen Feier zukommen zu lassen." Nun es kam offenbar nicht dazu und von späteren Jubiläen ist mir nicht bekannt. Die entsprechenden Jahre waren für Feiern auch ungeeignet.
Für die Einrichtung wurden 8 Morgen Acker und 3 Morgen Wiesengelände auf dem Boden des sogenannten Vorwerk Bohnekamp zur Verfügung gestellt.

Im nördlichen Teil befand sich das Landarmen- und im südlichen das lnvalidenhaus. Der Bau war 117 m lang und 13 m tief, er umfaßte im 1. Stockwerk 2 Säle, 21 Zimmer und 14 Kammern, im 2. und 3. Stockwerk je 2 Säle, 19 Zimmer und 13 Kammern und außerdem die sich durch 2 Stockwerke erstreckende Kirche. Jede Etage hatte 36 Fenster, sie wurde durch einen Flur in 2 Hälften geteilt; das Kel­lergeschoß diente zur Unterbringung der Wirtschaftsbetriebe wie Wäscherei, Küche, Bäckerei, Brauerei, ferner befanden sich hier die Arrestzellen. Der Dachboden wurde zur Aufbewahrung der Kornvorräte benutzt. Hinzu kamen noch die Areale für Friedhof und Park, die beide in ihren Anfängen damals angelegt wurden. Auf dem Gelände befanden sich ein großer Holz- und Torfstall im Süden und ein Schlacht- und Spritzenhaus im Norden. Auf dem Hinterhof existierten 2 Abortanlagen, in der Nähe der Dosse ein Badehaus und ein zu Desinfektionszwecken genutzter Brennofen. Das Gelände wurde von einer etwa 3 m hohen Mauer umgeben, bedeutende Teile davon befinden sich noch am Rande bzw. inmitten des Geländes.

Es sollten hier etwa 200 Vagabunden und 100 Invaliden untergebracht werden, Der Zweck der Anstalt war:

"1. die Bettelei zu verhüten und die bei der Bettelei ergriffenen Vagabunden beiderlei Geschlechts angemessen zu beschäftigen, alle alten Arbeits- und Erwerbsunfähigen, Obdach- und heimatlosen Leute unterzubringen,
viele Blödsinnige und unheilbare Gemütskranke aufzubewahren und
den Invaliden einen ruhigen und sorgenfreien Aufenthalt zu verschaffen."

Die Invaliden wurden familiengemäß untergebracht, konnten, soweit sie noch in der Lage waren, frei herumlaufen, mußten aber zu den Mahlzeiten und am Abend zu Hause sein.
Die Vagabunden, nach dem Geschlecht getrennt, befanden sich am Tage in den Arbeitssälen, nachts in den Schlafsälen und unter ständiger Aufsicht. Nach und nach starben die Personen, für die das Haus erbaut wurde, aus. Der Bedarf ließ zeitweise nach. Im Jahr 1820 wurden dann hier minderbemittelte Bürger aus der Stadt als Mieter aufgenommen. Es mußten jedoch bald strenge Maßnahmen gegen, wie es hieß, "Diebstähle und Ausschweifungen" ergriffen werden.

Am 1. November 1821 brannte unsere Nachbarstadt Pritzwalk fast völlig ab, so daß von dort 36 Familien mit ca. 150 Köpfen (nach anderen Angaben 70 Familien) hier vorübergehend Unterschlupf finden konnten (die vielen Kinder wurden lediglich durch einen Schuster unterrichtet). Unter dem Eindruck des Stadtbrandes standen vor jeder Wohnung ein Eimer Wasser, es existierte 1 Löschzug mit 3 Spritzmeistern. Damals machte man sich mancherlei Gedanken über den weiteren Verwendungszweck unserer Einrichtung. So plante man, hier ein Krankenhaus einzurichten, was dann jedoch nach Umprofilierung der Provinzialbehörden unterblieb. Auch gab es die Absicht, hier ein Gefängnis unterzubringen.
Die Vermietungen an Fremde gingen bis 1830. Nach einigen Umbauten wurde am 1. April 1832 die Einrichtung wiederum als "Landarmen- und lnvalidenhaus" übergeben; es wurden erneut dieselben Festlegungen wie 1792 erlassen. Etwa 150 psychiatrische Patienten wurden auf nur etwa einem Sechstel des heutigen Hauses zusammengepfercht. Es gab weder Schränke noch ausreichend sanitäre Anlagen, die Notdurft wurde auf Kübeln in den Fluren verrichtet, die Patien­ten mußten auf groben Holzpritschen liegen und auf Holzbänken bzw. auf Holzschemeln ohne Lehne sitzen. Sämtliche Angestellte wohnten mit im Hause. Waren es 1832 noch 153 "Pfleglinge", so zählte man 1844 bereits 238 Personen.

In einem Bericht des "Königlichen Kreisphysikus" Dr. Wormes (1836), der das Haus ärztlich versorgte, heißt es, daß bei alten Invaliden häufig ein Delirium tremens vorkam, das "antiphlogistisch" behandelt wurde - ein kühles Zimmer, Blutegel an den Kopf, innerlich eine Auflösung von Natrium hulpharicum und Tartarus stibiatus hätten immer zum Erfolg geführt - nur ein 80-jähriger Mann hätte noch eine Apoplexie dazu bekommen. Man liest aber auch von Selbstmordversuchen am Hals "mit blechernen Löffelstielen". Eine 25-jährige Wahnkranke, die aus Neuruppin als "unheilbar" über­wiesen wurde, zeigte nach einem Fenstersturz eine plötzliche und unverhoffte Besserung.

Es wunderte nicht, das Klagen nach außen drangen. Man stellte bei einer Besichti­gung fest, daß - wie man meinte - "unheilbare Geisteskranke" in völlig unbekleideten Zustand auf oft schmutzigen Stroh lagen. Es wurden Verbesserungen angeordnet, die darin lagen, daß im Keller eine kleine Badeanstalt eingerichtet wurde und das Ge­samtpersonal von 13 Personen (mit Köchin und Wäscherin) auf 17 Personen aufge­stockt wurde. 1848/49 wurde im Hinterhof ein Lazarett eingerichtet (später Station D 2). Hier wurden bis 60 Militärinvalide untergebracht. 1848 - 56 brachte man Häftlinge aus den Bereichen Wittstock und Perleberg hier unter. In einem Bericht des "Anstalts­vorstehers" John aus 1908 hieß es: "Die Häftlinge erblickten in den hiesigen Verhältnissen gleichsam Vorzüge gegen andere Anstalten, wodurch vagabundierendes Gesindel namentlich im Winter angelockt wurde." Nach Ausgliederung der "Vagabunden" konzentrierte man die Blinden unter den Pfleglingen auf dem geräumten Platz und stellte einen Blindenlehrer ein.

Es breiteten sich wiederholt Infektionskrankheiten aus, wozu auch die Tuberkulose und die Pocken gehörten.
Bevor 1865 die psychiatrische Anstalt in Eberswalde eröffnet wurde, plante man, sowohl die Patienten der alten Neuruppiner Anstalt als auch die Patienten aus Wittstock nach Eberswalde zu verlegen und damit sowohl die Einrichtung in Neurup­pin als auch in Wittstock aufzulösen. Es kam allerdings nur zur Auflösung der Ein­richtung Neuruppin (diese wurde später in einem Neubau wieder eröffnet).

Da Eberswalde 1865 nicht alle Neuruppiner Patienten aufnehmen konnte, wurden 300 Geisteskranke damals von Neurppin nach Wittstock verlegt. 1878 ging die Ein­richtung in den Landarmenverband der Provinz Brandenburg über, ohne daß sich etwas innerlich änderte. Eine weitgehende bauliche Umgestaltung wurde in den Jahren 1898 und 1907 durchgeführt. Die Vornahme des Umbaus geschah aus folgenden Gesichtspunkten:

- Entfernung der meisten Wohnungen der Angestellten aus dem Hauptgebäude; gleichzeitiger Bau eines "Beamtenwohnhauses" jetzt kombiniertes Verwaltungs- und Wohnhaus;

- Herstellung besonderer Wirtschaftsgebäude (Kochküche, Wäscherei);

- Vergrößerung des alten Lazarettgebäudes für männliche Patienten (jetzt Station D 1 -darunter sind einige Funktionsräume mit dem Saal)

- Erbauung neuer Ställe, Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten für dort tätige Patienten in unmittelbarer Nähe der Stallungen (Bau des C-Hauses);

- Bau eines Frauen-Siechenhauses (E-Haus).
Für die Erweiterung war der Erwerb der Nachbargrundstücke im Norden und Süden nötig (gleichzeitig Abgabe eines östlichen Streifens für die Bahnlinie nach Neurup­pin).

Im Norden des Geländes wurden Stallungen errichtet, im Süden u.a. eine Gärtnerei. Die Einrichtung, deren Um- und Ausbau die damals sehr hohe Summe von 906.000 Goldmark kostete, hatte nun 508 Plätze.

Von 1881 bis 1992 gab es angestellte Heimärzte mit unterschiedlichen Amtsbezeichnungen, nachdem vorher immer Ärzte aus der Stadt hinzugezogen wurden. Zu erwähnen wäre vor allem Dr. Herrmann Tille, der von 1902 - 34 hier wirkte, ihm folgten als Direktoren Dr. Riemann und Dr. Voß. Die ärztliche Tätigkeit hatte nicht die heutigen Möglichkeiten, war aber - auf den Einzelnen bezogen - wesentlich breiter gefächert. So berichtete Tille, daß er selbst schon in seiner ersten Zeit eine Mamm­aamputation wegen Brustkrebs, hohe Blasenschnitte, eine Rippenresektion und andere Operationen durchführte. Sektionen, Laboruntersuchungen - ja selbst Zahn­extraktionen - bei Patienten, an die sich kein Zahnarzt heranwagte, waren Sache des heimischen Nervenarztes. 1907 wurde ein für damalige Verhältnisse ungewöhnlich großer Behandlungsraum übergeben, der fast unverändert bis vor kurzem existierte. Der Ackerparzellenbesitz wuchs bis 1928 weiter an, ein besonderes "Schnäppchen" dürfte 1925 der Ankauf des Schützenhausgrundstückes mit vielen Wohnungen,
Gärten und einigen Nebengebäuden für 58.000 RM gewesen sein. Es ersetzte größtenteils das in anderen "Anstalten" vorhanden gewesene "Pflegerdorf' - davor oft "Wärterdorf' genannt. Bei den Bewohnern wurde in Pfleglinge, Hospitaliten, Geistes­kranke, Familienpfleglinge und Wanderer unterschieden (z.B: 1914: 169 Pfleglinge, 369 Geisteskranke, 43 Familienpfleglinge - ein Begriff, der nach dem 1. Weltkrieg deutlich zurückging). Schon zu Beginn des Jahrhunderts war von einer Bibliothek für die Bewohner sowie von Gesellschaftsspielen und Ausflügen mit Kaffee, Kuchen, Spiel und tanz die Rede. Trotzdem waren Rückschritte zu verzeichnen, denn die Um­ und Erweiterungsbauten hatten auch den Zweck, eine konsequente Trennung zwischen den Geschlechtern zu erreichen. Das Hauptgebäude war nun größtenteils vergittert, was bei der Gründung noch nicht der Fall war. Die Männerstationen wurden nur von männlichen Wärtern - wie es damals hieß - betreut und die Frauensei­te nur von Wärterinnen. Die Bezeichnungen Pfleger und Krankenschwester setzten sich später - teilweise erst nach dem 2. Weltkrieg durch. Verheiratete Frauen wurden nicht beschäftigt - es bestand die Möglichkeit, die Angestellten schnell von einer "Anstalt" zur anderen zu versetzen. Jedoch die guten und billigen Dienstwohnungen trösteten über manch anderes hinweg. Das Haus nannte sich nach dem 1. Weltkrieg "Brandenburgische Pflegeanstalt" bzw. "Landesanstalt". Die Landwirtschaft, in der auch viele Patienten eingesetzt wurden, spielte eine große Rolle, so gab es 1931 29 Rinder, 5 Pferde, 37 Schweine und 100 Stück Geflügel (Zahlen, die nach dem 2. Weltkrieg noch übertroffen wurden).

Der absolute Tiefpunkt in der Geschichte der Einrichtung war in der Zeit des Natio­nalsozialismus. Zu dessen verbrecherischen Programm gehörte nach Ausschaltung und Ermordung politischer Gegner vor allem die Vernichtung der verhaßten Juden und die Dezimierung der "Zigeuner", sowie der Geistes- und Gemütskranken. Letztere Aktion wurde heuchlerisch "Euthanasie", d.h. Tod auf gute Weise genannt. Von einer Berliner Zentrale in der Tiergartenstr. 4, daher der Deckname T 4, wurde diese geleitet. Die zuständigen Ärzte wurden zumeist nicht befragt bzw. klar hintergangen. Leider gab es auch schuldige Psychiater, die jedoch für Wittstock schwer auszuma­chen sind, da fast in der ganzen Kriegszeit die Einrichtung von Neuruppin versorgt wurde und es offensichtlich so war, daß die Namen mit den Diagnosen nach Berlin weitergeleitet wurden, wo SS-Ärzte die Verbrechen veranlaßten - mögli­cherweise hier auch Max de Crinis. Als NS-Chefneurologe, Nervenarzt auch für die Euthanasie/Rassenhygiene und Heerespsychiater leitet de Crinis auch die Psychiatrie an der Charité). Von der Idee der "" ist er zutiefst überzeugt.) Zu den negativen Ausleseprinzipien gehörte die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit, d.h., die nicht arbeitsfähigen Geisteskranken, die hier eine Hauptgruppe stellten, fielen in besonders hoher Zahl dem verbrecherischen Programm zum Opfer. Man schätzt, daß weit über 200 Personen umgebracht wur­den. Wittstock war aus Vertuschungsgründen auch die Zwischenstation für viele weitere Opfer. An- und Abtransport sind nur indirekt aus den Verpflegungszahlen zu vermuten, die in jener Zeit stark schwankten.

1985 starb ein geistig behinderter Patient, der fast 60 Jahre hier untergebracht war. Er konnte sich auf die schlimmen Jahre nicht besinnen. Aus den Akten dieses hier letzten noch greifbar gewesenen Zeitzeugen von den unmittelbar Bedrohten geht hervor, daß der Patient auf dem Boden des sogenannten "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933" 1935 sterilisiert wurde. Er erhielt auf Antrag des Vaters jedes Jahr - auch im Krieg - einen sechs- bis achtwöchigen Urlaub. Im Juli 1940 wurde ihm dieser jedoch "wegen dringender Arbeiten" ver­weigert. Es ist zu befürchten, daß der Patient, der mit einem Pferdefuhrwerk täglich die Post wegfuhr bzw. holte, in dieser Zeit mit vermehrten verlogenen Todesnachrich­ten unabkömmlich war. Das hat ihm möglicherweise auch das Leben gerettet.

Leider gab es in der Stadt auch schlimme Unduldsamkeiten gegenüber den Heimbe­wohnern. So beschwerten sich Bürger, weil "Insassen der Pflegeanstalt" sich auf Bänken des "Adolf-Hitler-Park's" (jetzt Friedrich-Ebert-Park) niederließen.
Man hatte das Ziel, "überflüssige Esser", wie man meinte zu beseitigen und auch Raum für andere Zwecke zu schaffen. So wurde auch hier, wie in den meisten psychiatrischen Einrichtungen, ein Reservelazarett zusätzlich eingerichtet. Auch Bombengeschädigte (z.B. aus Hamburg) fanden hier Aufnahme. Nach Kriegsende stand auf Grund dieser entsetzlichen Vorgänge die Einrichtung weitestgehend leer. Ein Teil der Gebäude wurde von Umsiedlern belegt, ein anderer Teil von der Roten Armee besetzt. 1950 waren die Umsiedler sowie die betreffenden Teile der Roten Armee wieder ausgezogen, so daß Wittstock als Zentrale für die Umsiedlung von 700 psychiatrischen Patienten (vorwiegend Schizophrene und Imbezile) aus ehemaligen deutschen Einrichtungen jenseits der Oder/Neiße-Grenze dienen konnte. 400 Patien­ten konnten hierbleiben. Das waren nicht ausschließlich Ostdeutsche, sondern auch Westdeutsche, die in den ersten Kriegsjahren wegen der Bombenangriffe in den angeblich sicheren Osten verlegt wurden - und auch da "vergessen " wurden. Die Landwirtschaft wie auch die Gärtnerei spielte jetzt in der Nachkriegszeit eine größere Rolle als je zuvor. Unter der Leitung von Fachleuten, wie Otto Musch und Gärtner Krüger, wurden erstaunliche Leistungen vollbracht, die nicht nur den Heimbewohnern, sondern auch vielen anderen Menschen zu Gute kamen. Später mußte man sich wegen hygieni­scher und anderer Bestimmungen von der Landwirtschaft trennen. Aus Stallgebäu­den entstanden eine Konsum-Verkaufsstelle, Lagerräume sowie Garagen.
Das Heizen, noch mit Öfen auf den Stationen, erfolgte in der Nachkriegszeit teilweise mit Sägespänen. Vor so manchem Dienstbeginn machten viele Mitarbeiter einen kleinen Umweg in den Wald, um etwas Feuerung zu "organisieren", wie es so schön hieß. 1952/54 wurde unter der Notwendigkeit eines vermehrten Bettenbedarfes der ehemalige Kirchenraum in Bettensäule umgewandelt. Die Kapazität stieg auf 820 Personen. Es gab 1956 im mittleren medizinischen Bereich 51 Mitarbeiter, wozu noch 73 Hilfskräfte kamen. 1959 - 64 erfolgte der Bau einer Fernheizungsanlage, zu dem Heizhaus, ein Kohlenlager und die Zentralheizung gehörte (Kostenpunkt 1,5 Mill. Mark). Ihm folgte ein Fahrstuhl sowie der Bau des Kindergartens.
Die Einrichtung wurde nach dem Kriege noch lange Zeit von Heimleitern geleitet. Sie gaben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten große Mühe und erreichten manches. Ich darf hier die Namen Drogoin, Klein, Franke und Lehmann nennen. Auch die Ärzte, die hier nacheinander tätig waren, leisteten Erstaunliches. Ich darf hier voller Hoch­achtung an Dr. Jung, Dr. Voß, Dr. Wittenburg und MR Haacke erinnern.
Schon durch die Umsiedlung der vielen psychiatrischen Patienten wurde bereits die Notwendigkeit unserer Wittstocker Einrichtung, die bis 1952 den Namen Landes­pflegeheim trug - nach der Gebietsreform blieb nur noch der Name Pflegeheim übrig - als Heim für vorwiegend psychiatrische Fälle bestätigt. Dies wurde noch dadurch betont, daß von 1965 - 90 ca. 150 schwerst hirngeschädigte Patienten, vor allem aus der Nervenklinik Brandenburg, hierher verlegt werden mußten. Hier erfolgten weitere
Fördermaßnahmen. Das Haus war aber sichtlich überfordert, sowohl aus räumlichen als auch aus personellen Gründen. Es war zwar juristisch erlaubt, bei Aggressionen und Autoaggressionen "feste Jacken" und andere Behinderungen zu benutzen, dies konnte aber nicht befriedigen. So ist es sehr zu begrüßen, daß man jetzt durch bessere personelle Besetzung sowie Auflockerung auf derartige Maßnahmen ver­zichten kann.
Die Profilierung als ausschließlich psychiatrische Einrichtung konnte und wollte jedoch nicht erreicht werden, da die Notwendigkeit des Territoriums für alte und behinderte Bürger berücksichtigt werden mußte. Das Pflegeheim Wittstock gehörte zum Sozialwesen der DDR und war damit auch einigen zu engen Sachzwängen unterworfen. Eine bessere materielle und personelle Ausstattung konnte man le­diglich durch den Terminus "Krankenpflegeheim" versuchen zu erreichen. Eine andere Alternative gab es nicht. 1975 wurde eine entsprechende Arbeitsgruppe eingesetzt - 1976 gab es wieder einen Ärztlichen Direktor; erst Dr. Zscherpe, dem 1978 Dr. Donalies folgte. 1978 erhielt auch das Pflegeheim die zitierte schwer er­kämpfte Bezeichnung.
Die Menschen, um deren Aufnahme man hier in der DDR-Zeit bat, wurden als nicht rehabilitationsfähig angesehen, sie galten als Pflegefälle bzw. als woanders nicht eingliederbar und das stimmte ja auch oft bei den damaligen Möglichkeiten - aber man versuchte doch, "wider den Stachel zu löcken".

So kam ein alter ehemaliger Zahnarzt als nicht heilbarer Dauerpatient in die Einrichtung. Der schwer alkoholkranke Mann mußte seine Praxis aufgeben, die Frau ließ sich scheiden, es folgte Approbationsentzug und Entmündigung. Trotz etwa 10-maliger Entziehungskuren wurde keine Besserung erreicht. Hier konnte ein angepaßtes Verhalten erreicht werden mit nur geringfügigen Rückfällen. Es wurde nach mehreren Anträgen die Entmündigung aufgehoben. Seinem Wunsch entspre­chend wurde er in ein Feierabendheim vermittelt, wo er noch einige Jahre zufrieden, unauffällig und anerkannt lebte.

Ein 14-jähriges zweifach geschädigtes Mädchen kam in eine Einrichtung, weil sonst keine Bleibe aufzutreiben war. Hier war die Rehabilitation soweit möglich, daß es im Hause einen entsprechenden Arbeitsvertrag erhielt. Nach einigen Jahren wurde es entlassen, es erhielt eine Neu­bauwohnung und einen geschützten Arbeitsplatz in einem Betrieb, der nach der 'Wende abgewickelt wurde.

Es wurden Dutzende von Rehabilitationsverträgen abgeschlossen, die Arbeitstherapie war vielseitig (in allen Bereichen und zusätzliche Aufgaben z.B. Kleiderbügelproduk­tion).

Es wurden zu jeder Jahreszeit Feste gefeiert - sowohl auf der Station wie auch zentral. Die Heimkapelle kam zum häufigen Einsatz. Es gab viele Ausflüge - ja sogar einige Auslandsreisen mit Behinderten. Der Neubau eines Feierabendheimes mit 63 Plätzen (Eröffnung März 1978) erlaubte eine größere Differenzierung im geriatrischen Bereich. Auch brachte eine Rekonstruktion der Einrichtung in den 70-er Jahren deutliche Fortschritte mit ca. 5 Mill. Mark. Die 30-Bettensäle verschwanden, es gab dann kleinere Räume, verbesserte sanitäre Bedingungen - sowie eine wohnlichere Ausstattung. Natürlich, was vor 20 Jahren ein großer Fortschritt war, reicht heute lange nicht mehr aus, und so muß das ganze Haus wieder umgebaut werden. Damals wurden die meisten Gitter entfernt und nach und nach alle Stationen - bis auf drei - geöffnet. Das alles geschah nicht ohne Widerspruch und mußte unvollendet abgebrochen werden. Natürlich sank die Kapazität durch die Rekonstruktion - sowie durch Auflockerungen. 1990 lag sie mit dem Feierabendheim bei 660 Plätzen - 1948 kam Maulbeerwalde, ein ehemaliges geräumiges Gutshaus mit über 60 Plätzen (ursprünglich als Schwerstbeschädigtenheim geplant) und 1967 Tetschendorf als Feierabendheim und spätere Pflegestation mit 25 Plätzen dazu. Letztgenanntes Haus ist ein Nachkriegslehmversuchsbau, für den sich selbst der Denkmalschutz inter­essierte. Es wurde 1990 - stark baufällig - wieder aufgegeben.
Die im wesentlichen offene Einrichtung war auch für andere offen.
So veranstaltete sie im Park - gemeinsam mit dem Wohnbezirk - Feste. Die Selbst­hilfegruppe abstinent lebender Alkoholiker ist seit Jahren für ihre Treffen Gast des Hauses.
Nach der "Wende" wurde die Leitungsstruktur zwar neu gegliedert, die leitenden Mitarbeiter jedoch bestätigt. 1991 wurde ein Trägerwechsel - bis dahin Landkreis Wittstock - vorbereitet.
Seit dem 1.1.1992 gehört das Krankenpflegeheim Wittstock zur Arbeiterwohlfahrt und erhielt im Sommer desselben Jahres den Namen "AWO-Zentrum Dosse-Park". Die Mitarbeiter wurden übernommen und durch viele Neueinstellungen erweitert. Die Leitung übernahm ab 1.5.1992 der Psychologe Dr. Steinhart aus Berlin-Charlotten­burg.

Ich wünsche der Einrichtung - allen Bewohnern, allen Mitarbeitern und der gesamten Leitung alles erdenklich Gute!

 

Wittstock, den 13.08.1993
MR Dr. med Christian Donalies,
1973-1993 Ärztlicher Leiter des Krankenpflegeheimes Wittstock (heute Dossepark)

Aus dem Manuskript „Rückblick auf die Entwicklung des Hauses" von Dr. Christian Donalies wurde von Dr. Steinhart - ohne Rücksprache mit dem Autor - folgende Passage gestrichen: „Bei der Trägerdiskussion spielte eine große Rolle, daß die AWO mit dem Konzept eines Krankenheims antrat - dieses wurde nach der Übernahme in einigen (maßgeblichen, C. D.) Punkten geändert. Ab 1992/93 wird das Haus durch ambulant tätige Ärzte versorgt” (Durch Dr. Chr. Donalies richtig gestellt bzw. ergänzt.)